Donnerstag, 21. November 2013

Venedig - Biennale - Channa Horwitz




Ich hatte noch nie etwas von oder über Channa Horwitz gehört. Trotz der fast unüberschaubaren Fülle an Ausstellungsobjekten sind mir ihre Bilder sofort ins Auge gesprungen.

Sind dies Striche? Sind dies Fäden? Wie Gespinste sehen ihre Bilder aus.

Dann lernte ich folgendes:
Channa Horwitz  (1932 – 2013) war eine US-amerikanische Konzeptkünstlerin.
Ihre Arbeiten basieren auf Wiederholung und Geometrie. Seit Anfang der sechziger Jahre arbeitet Channa Horwitz mit Zahlen, Rhythmen, Bewegungen und an den Möglichkeiten, diese Strukturen zu visualisieren. Ihre Zeichnungen sind oft Diagramme, die Zeit und Bewegung festhalten und sich wie eine Form der Partitur lesen lassen.

Es sind keine Fäden. Es sind feinste Striche, exakt gezeichnet.
Channa Horwitz arbeitet mit Plaka bzw. Tinte auf Millimeterpapier oder Polyesterfolie (Mylar)

Da ich so begeistert war, habe ich nach weiteren Informationen über Channa Horwitz gesucht. Und habe ein Interview mit ihr gefunden in artnet. Toll! Eine Frau, die Kunst macht .... und sehr amerikanisch, natürlich ...



Channa Horwitz im artnet-Gespräch

In zwei Stunden die Welt notieren
Dominikus Müller / 29. Dezember 2009

Channa Horwitz, Sie haben einmal gesagt: „Ich erlebe Freiheit durch die Beschränkungen, die ich meiner Arbeit auferlege.“ Warum sucht man sich ausgerechnet Beschränkung aus, wenn man Freiheit ausdrücken will?

Ich habe das einmal so erklärt: Wenn ich alles Geld der Welt hätte und damit alles tun könnte, was ich wollte – hätte ich dann auch die Möglichkeit, dies alles wirklich zu machen? Nein, natürlich nicht. Ich kann einfach nicht die ganze Welt sehen. Ich müsste also eine Auswahl treffen. Ich schätze es zum Beispiel sehr, gut zu essen. Also würde ich mich vielleicht dafür entscheiden, nach Europa zu gehen, dort die acht bis zehn besten Köche ausfindig machen, um dann aufzuessen zu versuchen, was immer sie kochen. Und das wär‘s dann auch schon! Je weniger Auswahl man nämlich hat, desto mehr Freiheit kann man bei der Wahl empfinden. Um ein anderes Beispiel zu nehmen: Der Teekessel auf dem Ofen rappelt und wackelt wie wahnsinnig und macht die ganze Zeit Geräusche, einfach deshalb, weil die Öffnung, aus der der Dampf entweichen kann, so klein ist. Ein normaler Topf dagegen springt überhaupt nicht. Warum? Weil es dort eine große Öffnung gibt, aus der der Dampf ungehindert entweichen kann.


Also meinen Sie mit Beschränkung einfach nur Konzentration?

Eine Beschränkung der Möglichkeiten gibt Kraft.

Ist Ihre künstlerische Beschränkung auf einige wenige Elemente eine Form der Meditation?


Nein, ich meditiere nicht. Man könnte meine Arbeit wohl als eine Form der Meditation verstehen, vielleicht einfach wegen des Umstands, dass ich ständig wiederhole, was ich mache. Aber das ist nicht meine Art und Weise, darüber nachzudenken.

Sie machen schon seit beinahe fünfzig Jahren Kunst. Wie hat das denn für Sie angefangen?

Ich bin in den frühen 1950er-Jahren für ein Jahr zur Kunsthochschule gegangen, habe dann aber geheiratet und Kinder bekommen. Als meine Kinder eines Tages zur Schule gingen, habe ich mich dann auch weiter um meine Kunstausbildung kümmern können. Ich war drei Jahre lang auf der Hochschule. Aber ich habe damit aufgehört, nachdem ich begonnen hatte, meine eigenen Fragen zu stellen.

Ihre eigenen Fragen?

Ja, ich begann, mir ernsthaft Fragen zu stellen, nachdem ich die Schule im Jahr 1963 verlassen hatte; und ich hatte meine erste Ausstellung 1969. Etwa um diese Zeit herum begann ich, wichtige Fragen zu stellen…

Aber Sie meinen keine „akademischen“ Fragen?

Nein, ich befragte die leere Leinwand. Mit solchen Fragen wie „Was passiert, wenn …?“ Und ich versuchte, all diese Fragen direkt auf der Leinwand zu beantworten. Ich habe immer nach Antworten gesucht, indem ich meine Arbeit tat.

Wenn wir über Wahlfreiheit sprechen und über das Fragenstellen, reden wir über Autonomie. Als Künstler, noch dazu als Künstlerin, eigene Fragen zu stellen und sich nicht dem zu unterwerfen, was die anderen tun, ist ein ziemlich autonomer Akt. Und darum scheint es Ihnen ja zu gehen. Aber war die beginnende Frauenbewegung zu diesem Zeitpunkt nicht auf ihre Art und Weise vor die gleichen Fragen gestellt?

Nein. Als Künstlerin musste ich einfach danach suchen, was ich zu sagen hatte. Und was ich dann als Künstlerin sagte, hatte einfach und allein mit diesen Fragen zu tun, und den künstlerischen Antworten, die ich durch meine Arbeit darauf finden konnte. Ich war nicht daran interessiert, was andere vor mir gemacht hatten; ich wollte etwas schaffen, das niemand vorher gemacht hatte. Ich wollte neue Ideen für die Kunst schaffen und neue Wege öffnen, denen die anderen dann folgen konnten.
 

Sind Sie nicht auch einem wachsenden Bedürfnis nach Freiheit gefolgt?

Meine Suche hatte mit meiner Arbeit zu tun und damit, wohin mich meine Fragen in Bezug auf diese Arbeit führten.

Ist denn die Autonomie entscheidender oder das Echo auf diese Autonomie? Vor einigen Monaten habe ich ein Interview mit Verena Pfisterer gemacht, einer deutschen Künstlerin aus den 1960er- und frühen 70er-Jahren, die aber nach nur wenigen Jahren aufgehört hatte, Kunst zu machen. Und Sie sagte, dass sei vor allem deshalb geschehen, da ihr das fehlte, was sie ihren „Spiegel“ nannte: Resonanz durch andere.
  

Oh ja! Feedback ist extrem wichtig, unglaublich wichtig … aber auch ich hatte keins.

Aber Sie haben anders als Pfisterer einfach weitergemacht. Wie geht das ohne Reaktion von außen?

Ich war so hungrig nach Reaktionen auf meine Arbeit, dass ich sogar die Briefträgerin gefragt habe, ob ich ihr zeigen dürfte, was ich gerade gemacht habe.

Ganz einfach deswegen, weil niemand anderer da war, mit dem man reden konnte. Auch mein erster Ehemann dachte, was ich mache sei komplett verrückt. Mein zweiter Ehemann dagegen findet es einfach sehr gut, dass ich beschäftigt bin. Aber auch er weiß nichts über Kunst, nicht mehr zumindest, als ich über sein politisches Engagement Bescheid weiß. Ich meine, er ist einfach so glücklich, dass ich beschäftigt bin, und ich bin glücklich, dass er beschäftigt ist.
Ich lasse ihn in Ruhe sein Ding machen und er lässt mich in Ruhe mein Ding machen. Und wir treffen uns, um das zu teilen. 

Das ist schlicht Romantik!

Oh mein Gott, das ist das Beste! Er teilt alles mit mir und ich teile alles mit ihm. Außerdem unterstützt er mich, wo er kann … ich meine, ich bin 77 Jahre alt und meine Karriere beginnt gerade erst!

Haben Sie eigentlich in all der Zeit geahnt, dass ihre Arbeit irgendwann einmal gewürdigt würde?
 
Eigentlich dachte ich, dass es erst nach meinem Tod so weit ist. Aber ich wusste, dass meine Kunst wichtig war. Denn sie ist ehrlich.




Sie arbeiten seit beinahe einem halben Jahrhundert an einer Art „Kardinalthema“, dem Thema der „Variation“ – wie haben Sie es geschafft, diese Frage so lange zu verfolgen?

Nachdem ich die Schule verlassen hatte, schränkte ich meine Möglichkeiten ganz rigoros ein: die Auswahl der Farben auf Schwarz und Weiß, die Formen auf Kreise und Vierecke. Das war also etwa zur Mitte der 1960er-Jahre. Und einige Jahre später, 1968 um genau zu sein, reichte ich ein Proposal für die „Art and Technology“-Ausstellung im L.A. County Museum of Art ein. Dafür entwarf ich eine Skulptur mit acht sich bewegenden Teilen und mit acht Licht-Strahlen…

Diese Zahl, die Acht, Sie benutzen sie ständig, nicht?

Das liegt einfach an meinem Zeichenpapier. Ich hatte die Wahl zwischen Papier mit fünf, acht oder zehn Linien per Zoll. Rein ästhetisch mochte ich die acht Linien nun mal am liebsten. Und durch das ständige Benutzen dieses Papiers machte ich diese Zahl zu einem Teil meiner eigenen Sprache. Ich wählte auch acht Farben aus. Und auch die benutze ich immer noch. Wie auch immer, bei dieser Licht-Skulptur fragte ich mich zunächst einfach, wie diese acht Strahlen sich über eine bestimmte Zeitlänge im Aussehen verändern würden. Also notierte ich diese Strahlen auf meinem Zeichenpapier, mit einem Zeitrahmen von 10 Minuten...

Sie hatten ein Notationssystem geschaffen.

Es war unglaublich faszinierend für mich, dass ich so einfach Bewegung notieren konnte. Eben da begann mein Interesse an der Aufzeichnung von Tönen und Bewegung. Ich war wirklich total begeistert davon, Bewegung auf Zeichenpapier festzuhalten. Kurz darauf fuhr ich mit meinem ersten Mann in den Urlaub. Und irgendwann wollte er Tennis spielen. Ich fragte aber nach der Erlaubnis, für ein paar Stunden auf dem Hotelzimmer zu bleiben, ihm also nicht beim Sport zugucken zu müssen.

Sie baten um Erlaubnis…

Oh ja, Sie müssen sich das vorstellen! Das war das Leben, das ich führte: Ich musste für alles, das von der Norm abwich, um Erlaubnis fragen. „Gut“, sagte er, „Das ist zwar nicht sehr gesellig, aber ok. Aber nur für zwei Stunden!“ Und da war ich also: allein in meinem Zimmer mit einem Stoß Zeichenpapier und einem Stapel Stifte. Und ich zeichnete meine sogenannten „Compositions“, Nummer 1, 2 und 3. Und da begriff ich, dass ich streng genommen alles notieren konnte, einfach mit diesen kleinen Kästchen auf dem Zeichenpapier: Sie konnten Bewegung sichtbar machen, sie konnten Notenwerte repräsentieren, sie konnten für Farben stehen. Und so könnte diese Notation alle Künste in sich aufnehmen! Sie konnte Worte beschreiben oder Kategorien, alles, was sich durch Notation fassen ließ. Es fühlte sich ganz so an, als ob ich eine neue Sprache entdeckt hatte, eine, die von allen Künsten verstanden werden konnte. Aber da waren die zwei Stunden auch schon vorbei und ich musste zum Tennisplatz.

Sie hatten nicht viel Zeit zum Erfinden.

Ich ging nicht ohne mein Material mitzunehmen. Und wenn niemand zusah, malte ich heimlich all die kleinen Kästchen auf dem Zeichenpapier aus. Plötzlich kam die Frau, die das Tennisspiel organisierte, herüber – ich versuchte erst einmal zu verbergen, was ich tat. Aber sie fragte: „Was machen Sie denn da?“ Also zeigte ich ihr diese kleinen Kästchen mit den 64 Farben ... und sie meinte: „Oh, mein Neffe hat gerade auch erst so etwas gemacht.“ Ich wurde natürlich total aufgeregt und fragte: „Was hat er gemacht?“ und sie antwortete: „Einen Aschenbecher.“

Das ist hart. Und leider auch ziemlich dumm.

Ich war aber diejenige, die dachte, dass es total dumm ist, was ich mache. Und meine Begeisterung darüber, eine vermeintliche gemeinsame Sprache für alle Künste gefunden zu haben, verwandelte sich in ein Gefühl von Dummheit angesichts dessen, was ich da gerade geschaffen hatte. Ich hatte dieses total neue Konzept – aber ich konnte überhaupt nicht damit umgehen.

Und trotzdem haben Sie nicht aufgeben?

Ich bin zurück ins Studio und habe einfach weitergemacht. Und an einem Punkt entschied ich mich dann, dass ich diese neuen Arbeiten in meiner nächsten Ausstellung zeigen wollte. Ich stellte also meine ersten Notationen aus, dazu Performances mit Tänzern, Skulpturen, meine sogenannten „Breathers“ und sogar eine Dia-Show ... im Kurzen und Ganzen: Meine Ausstellung war eine komplette Multi-Media-Show. Und von da ab begann ich auch, meine Notationen „Sonakinatography“ zu nennen, im Sinne von: Klang-Bewegung-Aufzeichnung.

Und wie wurde die Ausstellung dann aufgenommen?

Ein Kritiker der New York Times schrieb: „Hübsche Notationen einer Hausfrau aus dem Valley“ und eine andere Kritikerin... nun, als ich ihr meine Arbeit zeigte sagte sie nur: „Channa, ich glaube wirklich nicht, dass das, was du da machst, Kunst ist!“

Aber mal ehrlich: Wie konnten Sie die ganze Zeit weitermachen ohne den Mut zu verlieren – angesichts derartiger Kommentare?

Einfach, weil ich aus ganzer Überzeugung an das glaubte, was ich tat. Und da brauchte ich keine anderen Leute, um mir zu sagen, dass das, was ich tue, großartig und toll ist. Ich brauchte einfach nur zu glauben.

Aber die Anerkennung hat Ihnen doch gefehlt?

Ich hatte das große Glück, dass mein Mann mich wirklich unterstützt hat mit meiner Arbeit. Von Anbeginn an hatte ich dieses unglaubliche Studio und all die Materialien, die ich brauchte. Damit konnte ich tun, was ich wollte, ich konnte die ganze Welt erfinden! Und Bestätigung? Klar ist das wichtig. Aber trotzdem kann mir Bestätigung eigentlich nur sagen, was ich doch sowieso schon weiß. Ich hätte nicht so lange weitermachen können, ohne das, was ich da tat, aus tiefstem Herzen zu fühlen. Nicht ohne zu wissen, dass es eine bestimmte Relevanz besaß. Ich könnte nicht sagen, ob meine Arbeit gut ist oder nicht – aber sie ist voller Wahrheit und sie ist ehrlich. Vielleicht würde ich nie Anerkennung dafür bekommen, dachte ich, aber ich hatte immer das Gefühl, dass meine Kinder sie bekommen würden. Also war meine Arbeit immer auch ein „Investment“ für sie. Und deswegen habe ich darauf aufgepasst. Und dann, eines Tages, fand mich Michael Solway, ein Galerist aus Los Angeles. Er kam einfach vorbei, um sich meine Arbeit anzusehen.

Sie hatten lange auf diese Entschädigung gewartet. Wie lange genau?

Vielleicht neun Jahre ist das jetzt her. Michael kam in mein Studio. Er setzte sich auf meinen Zeichenstuhl und drehte sich ein bisschen darauf herum. Dann sagte er: „Weißt Du, Channa, normalerweise, wenn ich einen Künstler oder eine Künstlerin deines Alters treffe, dann mag ich deren alte, aber nie deren neue Arbeiten. Aber bei Dir ist das anders. Ich liebe deine alte Arbeit und deine neue Arbeit.“ Und ich dachte nur: Ich habe meine gesamte Karriere darauf gewartet, das zu hören. Und jetzt, da ich es gehört habe, kann ich einfach weitermachen. Ich brauche es jetzt nicht noch einmal zu hören.

0 Kommentare

Kommentar veröffentlichen